Digitalwirtschaft boomt | Angst vor Übernahme | Biden vorn
 

Gabor Steingart - Das Morning Briefing
08.04.2020
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Guten Morgen Dr. Barbara Ischinger,

viele behaupten, diese Krise werde sich als Wendepunkt der Menschheitsgeschichte erweisen. Danach werde nichts so sein wie vorher, lautet die stereotype Redewendung. Wir kennen diese Vokabeln aus der Zeit nach den Terroranschlägen von 9/11 und im Gefolge der Lehman-Pleite.

Weniger spektakulär, aber dafür realistischer ist es, diese Krise nicht als Wendepunkt, sondern als Beschleuniger zu betrachten. Auf uns wartet mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht das Ende der Globalisierung und auch nicht der Zerfall Europas; vielmehr wird die Welt in erhöhtem Tempo weiter ökonomisch globalisiert, politisch fragmentiert - und technologisch digitalisiert.

Vielleicht erhalten wir in diesen krisenhaften Tagen einfach nur eine Preview auf unser Leben, das künftige. Das Virus funktioniert demnach wie ein gestrenger Lehrmeister.

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Es unterbricht das traditionelle, das analoge Leben – das Theater, den Flugverkehr, die Olympischen Spiele, den schulischen Präsenzunterricht und den stationären Einzelhandel – um uns mit gebieterischer Geste in die Rituale des digitalen Lebens einzuführen. Wir entdecken die Welt des Streaming, des E-Sports und der digitalen Lehrmittel; dringen immer tiefer vor in die Paläste des E-Commerce, in die Showrooms der digitalen Dienstleister und die Kontakthöfe der algorithmischen Partnervermittler.

Der Staat sagt „Kontaktsperre“ und zwingt uns so zu einer Nachhilfe in Zukunftskunde. Die Tapetentür zur neuen Welt befindet sich inmitten unseres Handydisplays. Das Neue wird nach dieser Pandemie nicht mehr neu, sondern selbstverständlich sein. Unwillkürlich fühlt man sich an Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“ erinnert:

Wir waren Zeuge dieser ungeheuren Verwandlungen. Ständig musste man sich den fantastischsten Veränderungen anpassen, immer war man an das Gemeinsame gekettet. Für unsere Generation gab es kein Entweichen, kein Sich-Abseits-Stellen wie in den früheren. So erbittert man sich wehrte; es riss einen mit, unwiderstehlich.“
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Womit wir beim Abstieg der deutschen Industriekonzerne und dem Aufstieg der Technologieriesen sind, deren Geschäftsmodelle von der Corona-Pandemie in geradezu märchenhafter Weise beflügelt werden. Für diese Konzerne ist die Krise keine Krise, sondern ein Aufputschmittel. Hier die Fakten: 

► Die Börsenverluste durch den Shutdown fallen für die Technologieunternehmen minimal aus und sind relativ betrachtet auch keine Verluste. Trotz eines Minus von neun Prozent seit Jahresbeginn, hat sich der Wert von Apple innerhalb der vergangenen fünf Jahre verdoppelt.

► Ungebrochen weiter geht es für Amazon. Der Online-Gigant, der wie kein zweites Unternehmen von der Schließung des Einzelhandels profitiert, verzeichnet plus zehn Prozent seit Jahresbeginn, das Wachstum auf Fünfjahressicht: 380 Prozent.

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Der iPhone- und Technologiekonzern Apple entwickelte sich zum wertvollsten Unternehmen der Welt und hat als Einzelunternehmen eine größere Marktkapitalisierung als alle Dax-30-Konzerne zusammengerechnet. Diese Bewertung ist Ausdruck der Investorenerwartung und zugleich der Treibstoff, mit dem das Apple-Management seinen Steilkurs fortsetzen kann.

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Der Technologiesektor der USA, den der Index des Nasdaq 100 widerspiegelt, legte in fünf Jahren um 85 Prozent zu. Der Dax entgegen verlor im selben Zeitraum rund zehn Prozent (siehe Grafik); hier wird der Übergang von der gestrigen in die Welt von morgen sichtbar.

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Es sind diesmal aber nicht nur die spekulativen Bewegungen an den Wertpapiermärkten, sondern es sind die handfesten Veränderungen der Realwirtschaft, die in diesen Zahlen ihren weithin sichtbaren Ausdruck finden. Das weltweite Geschäftsgebaren erlebt einen so noch nie da gewesen Digitalisierungsschub:

► Weitreichende Reiseverbote verlagern Geschäftstermine in virtuelle Meeting-Räume. Ende März vermeldete der weltweit größte Internetknoten DE-CIX in Frankfurt im Vergleich zur Zeit vor der Coronakrise eine Verdoppelung der Streams für Videokonferenzen.

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► Der Versandhandel liefert nahezu alles, was der Einzelhandel nicht mehr liefern darf. Das Ergebnis: Während in Deutschland Kurzarbeit beantragt wird und in den USA die Arbeitslosmeldungen nach oben schießen, will Amazon USA 100.000 neue Jobs schaffen. 

► Konzernchef Jeff Bezos verteidigt im dritten Jahr in Folge den Spitzenplatz in der „Forbes“-Liste der reichsten Menschen der Welt. Die Vorzeigeunternehmer der alten Industrie hingegen wie Zara-Mehrheitsaktionär Amancio Ortega stiegen in den Rankings ab. Die BMW Mit-Eigentümerin Susanne Klatten verlor von 2018 auf 2020 rund 8 Milliarden US-Dollar ihres Besitzes und stieg von Platz 32 auf Platz 54 ab. Ihre Werte verfallen.

► Auch das Geschäft des chinesischen Amazon-Pendant Alibaba floriert. Neben dem Versandhandel hat der Konzern wichtige Staatsaufgaben übernommen. So lagerten Schulen und Universitäten ihren Unterricht auf die zu Alibaba gehörende Kommunikationsplattform Dingtalk aus. Im März sollen bis zu 50 Millionen Schüler und 600.000 Lehrer die App genutzt haben.
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Von Ausgangssperren und Kontaktverboten profitieren auch die großen Streaming-Unternehmen – sie gehören zu den „Stay at home stocks“, also den „Bleib-zu-hause-Aktien“. Laut DE-CIX steigerte sich im März der Datenverkehr in sogenannten Content Delivery Networks, die beispielsweise Videos für Anbieter wie Netflix oder Disney+ bereitstellen, um 50 Prozent.

► Auch der japanische Spiele-Hersteller Nintendo kann als „Bleib-zu-hause-Aktie“ von der Krise profitieren. Gaming ist längst nicht nur ein Zeitvertreib für Kinder und Jugendliche, auch Erwachsene greifen häufig zu Konsole und Joystick.

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Microsoft kann von der Corona-Pandemie besonders stark profitieren. Die Nachfrage nach seinen Cloud-Diensten sei um 775 Prozent gestiegen, meldet das Unternehmen aus Seattle. Ungefähr 44 Millionen Nutzer sind dieser Tage täglich auf der Kollaborationsplattform eingeloggt.

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Fazit: Die Krise als Chance, das ist kein leerer Manager-Spruch, sondern die Realität in diesem Frühjahr 2020. Macht und Wohlstand auf der Welt werden neu verteilt. Wir beobachten nicht nur die Abendsonne der Industriegesellschaft, sondern sind selbst Teil einer neuen Morgenröte. Vielleicht werden wir nach dem Ende dieser Coronakrise beglückt und in den Worten von Stefan Zweig ausrufen: „Immerhin habe ich das Strömende unserer Zeit so stark gefühlt wie selten in meinem Leben.
 
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Erstens: Das Bundeskabinett berät heute Änderungen des Außenwirtschaftsgesetzes. Es soll eine Stärkung der nationalen Investitionskontrolle durchgesetzt werden. Die Übernahme deutscher Unternehmen durch ausländische Investoren in strategisch wichtigen Bereichen will die Regierung erschweren. Der Staat als Schutzmacht der fallenden Engel. Siehe oben.

Zweitens: Die aktuell angespannte konjunkturelle Lage wird nach einer Prognose führender Wirtschaftsforschungsinstitute schwere Folgen für den Arbeitsmarkt hierzulande haben. Der Titel des Frühjahrsgutachten, das heute vorgelegt wird, lässt Böses erahnen: „Wirtschaft unter Schock“.

Drittens: Zwei Jahre nach dem verheerenden Giftgas-Angriff auf das syrische Örtchen Duma im Jahr 2018 will die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) die Verantwortlichen benennen. Die OPCW-Ermittler veröffentlichen ihren Bericht nun in Den Haag. Im April vor zwei Jahren waren bei einer Chlorgas-Attacke auf Duma mehr als 40 Menschen getötet worden.

Viertens: Die US-Regierung will die finanziellen Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen weiter aufstocken. Statt 350 Milliarden Dollar sollen insgesamt 600 Milliarden Dollar in Form von Krediten für die Unternehmen bereitgestellt werden.
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dpa
 

Fünftens: Die Wähler im US-Bundesstaat Wisconsin haben in der Nacht darüber abgestimmt, wer für die Demokraten gegen Präsident Donald Trump antreten soll. Ergebnisse können laut lokalen Medienberichten nicht vor kommender Woche erwartet werden. Ex-Vizepräsident Joe Biden gilt im Duell gegen den linken Senator Bernie Sanders als Favorit. 

Bidens wichtigster Gegner in der Auseinandersetzung mit Trump ist Biden selbst. Seine lockeren Sprüche stellen ein Reputationsrisiko für ihn da. Kostprobe:

I never had an interest in being a mayor ’cause that’s a real job. You have to produce. That’s why I was able to be a senator for 36 years.“
I get a lot of credit I don't deserve.“
It's easy being Vice President - you don't have to do anything.“
 
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In der neuen Folge unseres Podcast-Zyklus „Der achte Tag“ spricht Prof. Dr. Maren Urner zu uns. Sie ist Neurowissenschaftlerin und Mitgründerin des werbefreien Magazins für konstruktiven Journalismus „Perspective Daily“. Für sie bedeutet die aktuelle Ausnahmesituation eine Befeuerung, unser Leben endlich neu zu denken: 

Für mich ist die Coronakrise ein gesamtgesellschaftliches Trauma. Das klingt negativ, bietet aber eine große Chance, weil jetzt alles im wahrsten Sinne des Wortes verrückt ist. Aber wenn jetzt alles verrückt ist, dann ist unsere Vorstellungskraft auf einmal nicht mehr limitiert in dem, was noch vorher Realität war.“
Hören Sie diese kluge Stimme – direkt auf unserer Homepage , bei Spotify  und Deezer  sowie bei Apple Podcasts .
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Im Morning Briefing Podcast  begrüßt Sie in dieser Woche meine Kollegin Chelsea Spieker. Heute geht es um folgende Themen: 

► Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk von der Universität Harvard klärt uns über die innenpolitischen Auswirkungen der Coronakrise in den USA auf.

► Am Donnerstag soll es eine Schaltkonferenz der Opec-Staaten plus Russland und weiterer Ölproduzenten geben. Unsere Börsenreporterin Sophie Schimansky beantwortet uns die wichtigsten Fragen rund um den aktuell stark schwankenden Ölpreis. 

Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in diesen neuen Tag. Die Welt verändert sich, das gute Wetter bleibt. Immerhin! Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Gabor Steingart
Journalist & Buchautor
 
 
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Die neue Folge des Podcasts „Wall Street Weekly“ ist online. Börsen-Reporterin Sophie Schimansky geht der Frage nach, was das Angstbarometer VIX über die Coronakrise aussagt.
 
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In der aktuellen Folge von „Beyond the Obvious“ geht es ebenfalls um die Coronakrise. Dr. Daniel Stelter schaut sich den Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen im Rahmen der europäischen Solidarität an.
 
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